Sie hatte 60 Arztbesuche hinter sich. Aber keiner kontrollierte die Blutwerte. Bis Lebensgefahr bestand. Sie klagte.

Der Ehemann stammt aus einer Ärztefamilie. Er arbeitet zwar jetzt als Filmregisseur, hat aber selbst ein abgeschlossenes Medizinstudium. Auch der Freundeskreis setzt sich aus Ärzten zusammen. Als seine Frau ein Kind erwartete und als später Komplikationen auftraten, wurde sie zu einem Universitätsprofessor und einem Universitätsdozenten vermittelt. Was kann einem da noch passieren? Zum Beispiel, dass auf die Kontrolle der Blutwerte vergessen wird. Jahrelang. Bei insgesamt 60 Arztbesuchen. Und dass eine lebensbedrohende Unterfunktion der Schilddrüse übersehen wird. Aber weshalb ist das dem Ehemann nicht aufgefallen? „Aus heutiger Sicht eine peinliche Frage“, sagt er. Aber sein Medizinstudium lag damals bereits 15 Jahre zurück. Und er habe den Koryphäen vertraut.

Als Frau B. 1998 einen gesunden Sohn zur Welt brachte, war sie statt überglücklich niedergeschlagen, traurig, kaputt. Dazu kamen extrem niedriger Blutdruck, Anämie, Verstopfung, Müdigkeit, Muskelschmerzen, nicht enden wollende Menstruation, Kältegefühl, schwere Depressionen, aufgeschwemmtes Gesicht. Die heute 45-Jährige zum Kurier: „Ich habe mich selbst nicht erkannt.“ Früher war sie Leichtathletin. Sie arbeitete eine Zeit lang als Gebäuderestauratorin, schleppte Zementsäcke, mit links. Als Produktionsleiterin beim Film verwaltete sie Millionenbudgets. Nach der Geburt konnte sie während einer Aushilfstätigkeit in einem Geschäft nicht einmal die Kasse bedienen. Und als sie ihren kleinen Sohn hochhob, fiel er ihr aus den Armen, weil sie keine Kraft mehr hatte.

Die Hausärztin verschrieb Frau B. ein Mittel gegen die Verstopfung, der Gynäkologe Hormone gegen die Zyklusstörungen, ebenfalls ohne Laborbefunde. Und der Psychiater, den ein befreundeter Internist empfahl, der schon den Gynäkologen empfohlen hatte, verordnete sechs verschiedene Antidepressiva. Und noch etwas verordnete der Psychiater: Frau B. solle sich scheiden lassen. Freilich war – auch für einen Laien erkennbar – dass die Ehe zu dem Zeitpunkt in einer Krise war. Frau B. konnte den Alltag nicht bewältigen, ihr Mann wusste sich nicht mehr zu helfen.

Lebensgefahr

Im Herbst 2000 dachte sie: „Mein Körper ist tot“. Sie verbrannte sich beim Kochen, spürte aber nichts. Der Psychiater, der ebenfalls nie mit einem Laborbefund nach einer organischen Ursache geforscht hatte, schickte sie zum Gynäkologen zurück. Und der ließ endlich den Wert des Schilddrüsenhormons erheben. Er lag unter der Nachweisgrenze, Lebensgefahr!

Frau B. bekam die passende Medikation, erholte sich langsam, aber sie wird nie wieder so sein wie früher. Warum das so ist, erklärte ihr niemand. Ende 2005 fiel ihr bei der Nichte ihres Mannes, die Medizin studiert, ein Lehrbuch über die Schilddrüse in die Hände: Dort wurden alle ihre Symptome haarklein beschrieben, dann erst wurde der 45-Jährigen die jahrelange Fehlbehandlung bewusst, und sie wandte sich an ihren Anwalt Gerhard Deinhofer. Die Klage ist eingebracht.

Der Freund und Studienkollege ihres Mannes, der Internist, hat die Freundschaft übrigens aufgekündigt. Die Beklagten sind Kollegen. Eine Krähe hackt bekanntlich der anderen kein Auge aus…

Quelle: KURIER / 28.09.2009 / Seite 19 / von Ricardo Peyerl